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Die Praxis des Zeichnens schult die Wahrnehmung und schärft den Blick. Wer zeichnend einen Gegenstand ergründet, dringt in die Tiefe seiner Oberfläche vor und leuchtet noch die kleinsten Einzelheiten aus. Das forschende Auge des Zeichners führt Regie und delegiert die Ausführung der Objektwiedergabe an sein feinstes Instrument, die Hand. Er studiert das Objekt und beobachtet zugleich, wie dieses sich unter der Hand zum Bild auf der Fläche des Zeichenblatts verwandelt. Für Ulrich Moritz hat dieser Vorgang etwas Magisches. Es ist das Glück der Selbstvergessenheit in der Hingabe an das Sujet, das er beim Zeichnen erlebt. Wichtiger als das Ergebnis ist ihm die Zeichentätigkeit selbst – eine in die Bildumsetzung von Dingen vertiefte Meditation, eingeschlossen in einen von Auge, Objekt und Hand konstituierten Raum. 

 

Moritz nimmt seine Sujets aus der Natur. Ihr stets überraschender Reichtum an Formen, Farben und Strukturen, die keine Imagination überbieten kann, inspiriert ihn und fordert ihn heraus, sich zeichnend ihr anzunähern. Auch das naturkundliche Interesse spielt dabei eine Rolle. Als Historiker kennt er die bis weit ins 19. Jahrhundert hinein praktizierte Zusammenarbeit von Wissenschaft und Kunst, die die klassische Naturgeschichte begleitet und visuell bereichert hat. Auch wenn es nicht seine Absicht ist, diese Tradition wieder aufzunehmen und fortzuführen, die faszinierende Detailgenauigkeit der naturhistorischen Zeichenkunst – unabdingbare Voraussetzung ihres wissenschaftlichen Nutzens und ihrer Schönheit – besitzt für ihn Vorbildfunktion. 

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Die Abbildlichkeit der Zeichnung ist eine andere als die der Fotografie. Der Mechanismus der Aufnahme bildet bewusstlos ab. Bei aller »fotografischen« Genauigkeit und Treue zum Objekt bringt der Zeichner ein Abbild hervor, bei dem jeder Strich, den er zieht, und jede Schraffur, die er setzt, Ausdruck einer Entscheidung ist. Sein Produkt ist von Bewusstsein durchdrungen, jedes Detail, das er nachzeichnet oder ausblendet, das Ergebnis einer Handlung. Dadurch gelangt in das Bild etwas Anderes, ein Überschuss, der das Gezeichnete vom makellosen Abbild unterscheidet. Dieses Andere ist in allen Bildern präsent, der Betrachter nimmt es auf den ersten Blick wahr. Und doch ist es schwer zu fassen, entzieht sich der Definition – und bleibt das Geheimnis des Künstlers. 

 

Das Zeichnen, wie es Moritz praktiziert, erfordert Zeit. Nach dem mit Graphitstift angelegten Entwurf arbeitet er sich mit farbigen Liniengespinsten und Schraffuren, diese immer wieder mit dem Stift überzeichnend, zur Abbildung seines Bildmotivs nach und nach vor. Die Arbeit an einer Zeichnung kann Wochen dauern, die aufgewendete Zeit verbleibt indessen spürbar im Bild. Die Kunst von Ulrich Moritz präsentiert somit auch einen Gegenentwurf zu der massenhaften, überall installierten, im Bruchteil einer Sekunde per Fingerklick ausgelösten Produktion von Bildern, deren Allgegenwart heute die mediale Welt überschwemmt.

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